Schon das große, alte Gemäuer des St. Annen-Klosters in Lübeck versprüht einen besonderen Zauber des Vergangenen, des Alten, des Unbekannten. Es macht neugierig, verspricht Geheimnisse und lädt zum Entdecken ein. So auch die aktuelle Ausstellung „Cranach – Kemmer – Lübeck“. Als Neuling in der Kunst ist Mona besonders gespannt, was sie erwartet – und nimmt dich dabei mit auf eine persönliche Führung.
Große Kunst & freche Dackel
Bist du schon einmal im Lübecker St. Annen-Museum gewesen? Es lohnt sich! Es ist im ehemaligen St. Annen-Kloster untergebracht, was ihm einen einzigartigen Charme verleiht. Der Fokus des Museums liegt auf der größten Sammlung norddeutscher Schnitzkunst und der deutschen und niederländischen Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts sowie auf dem Leben im historischen Lübeck.
In vielen der Werke kannst du spannende, erstaunliche und sogar ziemlich lustige Dinge entdecken, wenn du nur genau hinsiehst. Oder hättest du zwischen den Heiligen einen Dackel vermutet, der seinem Herrchen frech in den Saum seines Mantels zwickt?
Kunst zwischen Renaissance und Reformation
Die aktuelle Ausstellung des Museums läuft unter dem Namen „Cranach – Kemmer – Lübeck. Meistermaler zwischen Renaissance und Reformation“ und zeigt Werke der beiden Künstler Lucas Cranach der Ältere und Hans Kemmer. Lucas Cranach ist dabei der bekanntere der beiden Maler – wobei das auch der Tatsache geschuldet ist, dass er unglaublich viele Werke geschaffen hat. Wie das möglich war? Na vor allem dank des unermüdlichen Schaffens seiner Schüler und Mitarbeiter. Und zu denen zählte eben auch jener Hans Kemmer, den wir uns heute genauer ansehen.
Fragen erwünscht!
Ich erkläre Julia Hartenstein, die mich heute an die Hand nimmt, dass ich wenig Ahnung von Kunst habe und sie sich nicht über doofe Fragen wundern darf. „Doofe Fragen gibt es nicht“, sagt sie. Und ich glaube es ihr. Denn das Besondere an der Kunst ist doch, dass sie für jede:n zugänglich wird, wenn man nur will. Das merke ich schon daran, wie sehr Julia ins Schwärmen gerät, wenn sie davon erzählt, was verschiedene Kunstwerke alles ausdrücken können …
Wir beginnen die Führung im oberen Stockwerk, wo Julia mir erklärt, wie es überhaupt zur Ausstellung kam. Denn Hans Kemmer ist, wie bereits erwähnt, im Gegensatz zu anderen Malern seiner Zeit über die Grenzen seiner Wirkstätte hinaus nicht bekannt geworden und auch dort, also in Lübeck, hat man ihn relativ schnell wieder vergessen. Doch zu Unrecht, könnte man nun sagen, denn die Werke, die er hinterlassen hat, sind sehr spannend.
Nun, zum 460. Todestag, will das St. Annen-Museum Besucher:innen zeigen, was Hans Kemmer erschaffen hat – und sein Schaffen so für eine breite Öffentlichkeit zugänglich machen. Dafür hat es Leihgaben aus der ganzen Welt versammelt. Sogar aus Los Angeles ist ein Bild eingetroffen. „Der Besitzer fand die Idee so toll, dass er ganz aufgeregt war und das Gemälde lange vor der geplanten Ausstellung auf seine Reise zu uns schickte“, erzählt Julia. Kunst begeistert eben.
Wittenberg statt Utrecht
Für die meisten deutschen Maler zu Zeiten der Reformation war es üblich, als Geselle in die Niederlande zu gehen. Mit Jacob von Utrecht war jedoch ein bedeutender niederländischer Künstler selbst in der Hansestadt und Hans Kemmer konnte sich direkt vor Ort von seinen Werken inspirieren lassen. Um 1515 herum schlug Kemmer dann seinen Weg nach Wittenberg ein, wo er in der Werkstatt Lucas Cranachs landete.
Cranach war zu jener Zeit einer der bedeutendsten Künstler nördlich der Alpen. Er nahm sowohl Aufträge von Anhänger:innen der Reformation als auch von Altgläubigen an. Ob das nicht ungewöhnlich sei, will ich von Julia wissen. „Vielleicht ein wenig. Doch man darf nicht vergessen, dass richtig gute Künstler selten waren und sich daher darauf geeinigt wurde, dass es eben nur darum gehen sollte: seine Kunst. Außerdem war Lucas Cranach der Ältere nicht einfach nur Künstler, sondern vor allem auch Auftragnehmer und zudem ein gewiefter Geschäftsmann.“
Martin Luther und Lucas Cranach
Da Wittenberg ein besonderer Teil der Geschichte zukommt (schlug doch Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel an die Tür der Schlosskapelle an), ist die Arbeit Cranachs von der Reformation geprägt. So war er es, der das Hochzeitsbildnis seines Freundes Martin Luther und dessen Gattin Katharina von Bora malte. Auch für die Kurfürsten von Sachsen war Lucas Cranach tätig. Dadurch war es ihm erlaubt, was eher unüblich war, eine große Werkstatt mit bis zu 11 Angestellten zu betreiben, darunter auch Hans Kemmer.
Zeit des Aufbruchs in Lübeck
Lübeck wurde 1531 endgültig reformiert. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hans Kemmer Wittenberg bereits wieder hinter sich gelassen. Er lebte nun seit einigen Jahren in Lübeck, übernahm die Werkstatt des Malers Hermann Wickhorst und heiratete dessen Witwe Anneke. Aus Wittenberg hatte er viele fortschrittliche Themen mitgebracht, so auch evangelische Lehr- und Bekenntnisbilder. Kemmer verdiente, da er für die Führungsschicht arbeitete, gutes Geld und konnte sich ein Haus in der Königstraße leisten: Er malte viele vornehme Kaufleute, so eventuell auch den Lübecker Bürgermeister Gotthard von Höveln. Mehrfach wurde Kemmer zum Vorsitzenden des Maleramtes, dem sogenannten Ältermann gewählt. Was für ein fortschrittlicher, gut situierter Mann, denke ich mir.
Besondere Gesichter und Selfies
Doch nicht nur das macht Hans Kemmer so spannend. Was man beim Vergleich seiner Werke beobachtet, ist eine ausgeprägte Leidenschaft für komische Gesichter – klingt seltsam, ist aber so. Wer sich die Personen genau ansieht, erkennt recht schnell, wohin Kemmer Sympathien lenkte und wen er als die „Bösen“ darstellen wollte: knorpelige und dicke Nasen, Schweinsäuglein, verformte Köpfe.
Und auch seine Porträts zeugen von einer ungeheuren Lebendigkeit. Ich meine plötzlich, echte Charaktere in den Porträts erkennen zu können, frage mich, wie jene Frau oder jener Mann gelebt, was sie gedacht haben. Wie sie ihren Kopf halten, was ihr Blick dem Betrachtenden sagen möchte, wohin ihre Reise ging und wo sie endete. Ich frage mich, ob es bei dieser Art der Kunst nicht immer schon nur um eines, nämlich Selbstdarstellung, ging. Denn fast hat es den Anschein, als habe man die ersten Vorboten unserer heutigen Selfies vor sich.
Reiz der Vielfalt
Während ich noch über die Porträtierten nachdenke, zeigt Julia mir verschiedene Gemälde, die alle ein ähnliches Motiv zeigen, nämlich die sogenannten Gesetz und Gnade-Darstellungen. Ebenso wie Bilder der biblischen Geschichte der Eherbrecherin, verdeutlichen sie den Kern der Reformation: Ablasshandel war gestern, jede:r von uns ist ein:e Sünder:in. Von seinen Sünden befreien kann man sich aber nicht, indem man nur Gutes tut oder sich gar freikauft – nur Gottes Gnade alleine kann den Menschen von seinen Sünden befreien. Weil er das eben so will, nicht weil wir Opfer bringen.
Die Werke sind von unterschiedlichen Künstlern und es macht Spaß, hier genau hinzusehen. Wie sind die Sünder:innen dargestellt, wie detailverliebt die verschiedenen Szenarien und wieso finden sich in einem der Werke so viele Schlangen? Ich finde es besonders spannend, die Werke miteinander zu vergleichen und sich sein eigenes Bild dazu zu machen.
Überhaupt sind viele Bilder gespickt mit neuen Inhalten: Religion, Glaube, Erlösung, Selbstdarstellung, Reichtum, Ideen, Fortschritt und eine neue Art, an Dinge heranzugehen – die Liste der Themen, die du in den Bildern entdecken kannst, ist lang. Die Zeit, in der Hans Kemmer und Co. lebten und arbeiteten, war eine Zeit des Umbruchs. Etwas Altes musste weichen und Platz für etwas Neues machen, die Menschen mussten sich umgewöhnen, auch wenn es für manch eine:n schwierig war. Etwas, das auch wir heute immer wieder erleben – denn im Prinzip wiederholt sich die Geschichte ja doch.
Noch immer nicht genug?
Wer vor oder nach der Ausstellung noch einen Einblick in die Welt bekommen möchte, in der Hans Kemmer gelebt hat, kann einen Rundgang durch das Museum machen. Hier erwartet die Besucher:innen eine großartige Sammlung an Kunstwerken und Kulturgegenständen, die die Ausstellung noch einmal in den Kontext rücken.
Beeindruckende Gemälde Jacob von Utrechts, auf denen das Kleid der Maria wirkt, als wäre es wahrhaftig Samt, Altäre, die in der Feinheit ihrer Schnitzarbeit kaum zu übertreffen sind und – ihr erinnert euch vielleicht – ein kleiner Dackel, der ganz frech in den Mantelsaum seines Herrchens zwickt. „Das Mittelalter stellen wir uns immer so düster vor. Aber es war auch lustig, es war wirklich lustig“, kommentiert Julia meinen erstaunten Blick auf diese Figuren.
Übrigens: Du kannst dir mit einem frei zugänglichen Audioguide noch viele weitere spannende Informationen einholen, während du durch das Museum und die Galerie schlenderst. Damit entgeht dir kein wichtiges Detail und keine interessante Anekdote. Geöffnet ist das Museum dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr, Montag ist es geschlossen.
Dank meines Besuchs im St. Annen-Museum weiß ich nun, dass auch und gerade Kunst, die schon etwas älter ist, dazu einlädt, sich mit Themen von heute zu befassen. Und dass man keine Angst davor haben muss, sich mit Kunst zu beschäftigen – ohne Kunstgeschichte studiert zu haben. Denn gerade dann sieht man vielleicht Dinge, die sonst im Verborgenen geblieben wären – wenn man nur genau hinsieht.
Vielleicht kannst du dir ja ein eigenes Bild davon machen, wenn du das St.Annen-Museum bald besuchst. Bei dieser Gelegenheit lohnt sich ein Blick in die Ausstellung der St. Annen-Kunsthalle, ein anschließender Snack im Kunst-Café oder in einem unserer anderen Lieblings-Cafés in Lübeck und ein wenig Bummelzeit.
Besuche:
St. Annen-Musum
St.-Annen-Straße 15
23552 Lübeck
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